Gastbeitrag von Otto-Vorstand Rainer Hillebrand erschienen in „Digital human – Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung“ von Bettina Volkens, Kai Anderson (Campus Verlag).
Handel – alle gegen Amazon – Digitale Transformation mit menschlichem Antlitz
Die digitale Transformation als Herausforderung
„Alles Erworbene bedroht die Maschine“. Diesen Satz hat Rainer Maria Rilke schon 1922 geschrieben. Und er hatte damit Recht. Denn tatsächlich sind seitdem, zum Beispiel in der Produktion, massenhaft Arbeitsplätze verloren gegangen. Und gleichzeitig hatte Rilke Unrecht. Denn mit dem technischen Fortschritt entstanden wiederum in ganz anderen Bereichen neue Arbeitsplätze – in der Wartung, der Planung, im Dienstleistungsbereich.
Rilkes Satz inmitten der Industrialisierung des letzten Jahrhunderts zeigt vor allem eines: Der technische Fortschritt, die Innovationen in der Arbeitswelt haben immer schon Ängste geschürt, Skepsis erzeugt. Bisher jedoch hat es der Mensch immer geschafft, die Ängste zu überwinden, die Herausforderungen – und mochten sie auch noch so groß sein – zu bewältigen.
Wenn wir uns also jetzt der nächsten technischen Neuerung gegenüber sehen, der so genannten digitalen Revolution, so stellt diese vielleicht die größte je zu bewältigende Umwälzung der Arbeitswelt dar. Und doch bin ich der festen Überzeugung, dass sich auch diese Herausforderung meistern lässt – ohne den Menschen und seine Interessen dabei aus dem Blick zu verlieren, vielmehr sogar, indem der Mensch auch weiterhin als zentraler Faktor gesehen wird, um die digitale Transformation erfolgreich zu gestalten.
Der Mensch im Mittelpunkt
Bei der Otto Group haben Werte schon immer eine herausragende Bedeutung gehabt. Es ging nie allein um den rein wirtschaftlichen Erfolg. Die Otto Group hat es sich vielmehr immer schon zur Aufgabe gemacht, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden – ob nun gegenüber der Umwelt oder aber eben gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Menschen. Unser Aufsichtsratsvorsitzender Dr. Michael Otto lebt genau diese Verantwortung exemplarisch vor und hat dies treffend in einem Satz formuliert: „Die Wirtschaft muss dem Wohle des Menschen dienen – nicht umgekehrt.“
Das ist ein Anspruch, den wir bei der Otto Group leben, und der sich deshalb auch in unserem jüngst partizipativ erarbeiteten Leitbild „Gemeinsam setzen wir Maßstäbe“ und in den dazugehörigen Leitlinien für unser zukünftiges Miteinander innerhalb der Gruppe wiederfindet. Dort heißt es: “ Wir schaffen Rahmenbedingungen, die es uns erlauben, die besten Talente zu rekrutieren, zu fördern und zu binden – People First! “ Die Kernbotschaft dabei ist, dass wir bei allen Überlegungen, wie eine erfolgreiche Zukunft der Otto Group aussehen kann und wie wir diesen Weg bewältigen wollen, immer den Menschen in den Mittelpunkt stellen – ob als Kunde, Lieferant oder Kollege.
Ja, auf der einen Seite werden wir ein voll digitalisierter Handels- und Dienstleistungskonzern. Das ist zwingende Voraussetzung, um den tiefen Wandlungsprozess, den die digitale Transformation mit sich bringt, erfolgreich zu gestalten. Auf der anderen Seite werden wir deshalb aber nicht unsere soziale Verantwortung für die einzelne Kollegin oder den einzelnen Kollegen über Bord werfen. So halten wir als Otto Group beispielsweise das Tarifsystem für ein hohes und schützenswertes Gut, die soziale Absicherung für ein essentielles Arbeitnehmerrecht. Das mag uns von Marktbegleitern unterscheiden, in Maßen auch Wettbewerbsnachteile mit sich bringen; gleichzeitig ist es für uns jedoch der Ausdruck unserer hohen Wertschätzung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit ein Puzzleteil unseres selbst formulierten Vorsatzes, als Unternehmen dem Wohle des Menschen zu dienen.
Gleiches gilt, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Wir können es uns schlicht nicht leisten, exzellente, in den konkreten Fällen meist weibliche Fach- und Führungskräfte nur deshalb zu verlieren, weil es uns nicht gelingt, diese Vereinbarkeit zu gewährleisten – und zwar auf allen Hierarchieebenen. Diese Erkenntnis ist für uns keine neue; es ist deshalb nur selbstverständlich, wenn eine unserer Direktorinnen ihre Tätigkeit trotz ihrer Position in Teilzeit ausübt, es ist kein Zufall, dass unserem Konzernvorstand inzwischen zwei Frauen angehören – ganz ohne Quotenverpflichtung. Auch hier ist es der Anspruch an uns selbst, den Menschen mitzunehmen, ihn in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.
Und natürlich lässt sich dieser Anspruch auch auf den Umgang mit unseren Kunden übertragen. Wir stellen die Wünsche des Kunden in den Mittelpunkt all‘ unserer Bestrebungen, unseres Handelns. Wir nennen das „Customer Centricity“. Ja, diese Sichtweise sollte selbstverständlich sein für jeden Handelstreibenden. Sie mag von vielen als Allgemeinplatz verstanden werden. Und doch unterscheiden wir uns im konkreten Handeln von anderen, wenn es darum geht, diesem Vorsatz gerecht zu werden.
Natürlich verschließen wir uns beispielsweise im Kundenservice nicht den Chancen, die der technische Fortschritt mit sich bringt. Das Gegenteil ist der Fall. Wir nutzen selbstverständlich auch hier alle Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bietet, sei es, wenn es um die stark individualisierte, sehr persönliche Ansprache unserer Kunden in unseren über hundert Onlineshops geht, sei es bei der zukünftigen Nutzung so genannter Chatbots, mit deren Hilfe sich einfache Kundenanfragen automatisiert beantworten lassen.
Und doch sind wir uns sicher, dass der persönliche, der menschliche Kontakt mit dem Kunden, den wir über unsere Relation Center, unseren Kundendienst, gewährleisten, auch in Zukunft eine überragende Bedeutung für unseren wirtschaftlichen Erfolg behalten wird. Auch hier unterscheiden wir uns ganz sicher elementar von vielen Mitbewerbern. Und dennoch ist dieser Ansatz aus unserer Sicht ein entscheidender Baustein unseres jahrzehntelangen Erfolgs, ist es doch gerade das Persönliche, das Menschliche im Umgang, das der Kunde an unseren zahlreichen Konzerngesellschaften schätzt, weshalb er der Otto Group immer wieder neu sein Vertrauen schenkt.
Ein weiterer Grund für geschenktes Vertrauen ist ganz sicher auch ein verantwortungsvoller Umgang mit den persönlichen Daten des Kunden. Wir nutzen diese Daten, um dem Kunden auf ihn zugeschnittene, bestmögliche Angebote zu machen, um ihn so persönlich und individuell wie möglich anzusprechen – aber eben nur dann, wenn diese Nutzung mit dem strengen deutschen Datenschutzrecht vereinbar ist.
Der Otto Group Weg
Als Otto Group haben wir es über Jahrzehnte geschafft, die zuvor angesprochenen Werte zu leben und dennoch den wirtschaftlichen Erfolg nicht aus den Augen zu verlieren. Gelungen ist dies auch, weil unser heutiger Aufsichtsratsvorsitzender Dr. Michael Otto schon vor über zwanzig Jahren einen notwendigen Wandel in der Ausrichtung des Geschäftsmodells eines Katalogversandhändlers hin zu einem primär Onlinehändler initiiert hat. Andere sind frühzeitig an der digitalen Entwicklung gescheitert – ich nenne nur exemplarisch Neckermann und Quelle. Wir dagegen sind mit einem weltweiten Online-Umsatz von rund 7 Milliarden Euro auch weiterhin einer der weltweit führenden Onlinehändler.
Und doch sind wir auch heute nicht blauäugig. Wir wissen um die Notwendigkeit, uns weiterhin zu wandeln, viel schneller, viel flexibler noch als früher auf die sich radikal ändernden Marktbedingungen zu reagieren. Die digitale Transformation – das Internet of Things, der Mobile und Conversational Commerce – wird den Handels- und Dienstleistungsmarkt in den kommenden Jahren disruptiv verändern. Wissenschaftliche und technologische Erkenntnisse werden zu einem tiefgreifenden Wandel in den unterschiedlichen digitalen Marktumfeldern führen. Und auch wenn niemand, auch wir nicht, sagen kann, wie dieser Wandel im Detail aussehen wird, so müssen wir uns darauf vorbereiten, müssen bereit sein, die richtigen strategischen Antworten zu finden.
Uns hat dies zu der Erkenntnis gebracht, dass wir uns von alten Denk- und Handlungsmustern verabschieden müssen. Wir müssen in unserem Unternehmen ein neues Verständnis für den Wandel der Kundenbedürfnisse, für die digitalen Herausforderungen, für die Anforderungen der Digital Natives schaffen. Wir müssen stärker als bisher zu digitalen Treibern werden, ohne unsere Werte dabei aus den Augen zu verlieren. Dafür bedarf es einer neuen Haltung, anders ausgedrückt: Wir brauchen eine andere Unternehmenskultur.
Die Otto Group hat aus den genannten Gründen im Jahr 2016 den #Kulturwandel 4.0 ausgerufen, den wohl radikalsten Change-Prozess ihrer Geschichte. Der #Kulturwandel 4.0 fragt nicht nur nach der zukünftigen Existenzberechtigung der Otto Group; er adressiert schonungslos den Veränderungsbedarf auf allen Hierarchieebenen, im Verhalten von Führungskräften, den Vorstand eingeschlossen. Er will eine partizipative Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen, will die Kompetenzen und Stärken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort einsetzen, wo sie den größten Nutzen bringen, will Hierarchiedecken einreißen, neue Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten schaffen.
Wir brauchen gut ausgebildete, überdurchschnittlich motivierte, aber vor allem auch risikofreudige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als digitale Treiber in unseren Konzerngesellschaften und müssen diese langfristig an die Otto Group binden. Diese Kolleginnen und Kollegen haben wir aber nur dann, wenn wir dauerhaft spannende Aufgabenfelder bieten, wenn wir unsere eigenen Prozesse in Frage stellen und verändern, zu einer agilen, flachen und schnellen Organisationsform zu werden.
Für Führungskräfte bedeutet dies, zukünftig viel stärker als bisher zum Enabler, Möglichmacher, zum Ratgeber zu werden, den Mitarbeiter zu fördern und zu unterstützen – und eben nicht mehr nur Arbeitsanweisungen nach dem Top-Down-Prinzip zu erteilen. Und es heißt auch, sich selbst und sein eigenes Handeln immer wieder in Frage zu stellen. Das fällt naturgemäß nicht jedem leicht, und doch ist der #Kulturwandel 4.0 für uns ein unumkehrbarer Prozess, die Grundlage für das langfristige Bestehen in diesen Zeiten des tiefgreifenden Wandels.
Wir wollen eine neue kulturelle Identität – eine Identität, die neue Werte mit unseren bestehenden Werten verknüpft und uns zum Weltmeister der Transformation macht.
Der Mensch gestaltet den Wandel
Mit dem #Kulturwandel 4.0 haben wir also einen aus unserer Sicht großen nächsten Schritt getan, um dem digitalen Wandel zu begegnen, um die digitale Transformation zu schaffen. Und doch ist es nur ein weiterer Schritt, können wir doch nur erahnen, was uns die Zukunft bringt, vor welche Herausforderungen uns Entwicklungen wie selbstfahrende Autos, Big Data und künstliche Intelligenz stellen. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass wir mit diesem Schritt die Arbeitszufriedenheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheidend verbessern und damit natürlich auch produktiver, einen höheren Umsatz erzielen werden.
Gelingt uns dies, so bin ich mir sicher, dass wir Rilkes „Maschine“ nicht als Gefahr, sondern als Herausforderung und Chance begreifen. Wir müssen der Zukunft das Bedrohliche nehmen. Der Mensch gestaltet die Transformation, nicht die Maschine. Vieles, was der Mensch kann, wird eine Maschine auch auf Sicht nicht können, zum Beispiel kreativ zu agieren, ein Bauchgefühl zu entwickeln und darauf bei schwierigen Entscheidungen zu vertrauen.
Sicher: Einige Arbeitsplatzprofile werden sich ändern, andere ganz sicher auch ganz verschwinden. Dafür jedoch werden neue entstehen. Positionen im Dienstleistungsbereich, Stellen im IT- und Techniksektor, Positionen, für die es auf menschliche Eigenschaften wie Kreativität, Kommunikations- und Teamfähigkeit ankommt.
Wir als Otto Group stellen weiterhin den Menschen in den Mittelpunkt, weil er zentral ist für unsere Unternehmenswerte. Wir tun dies aber eben auch aus der festen Überzeugung heraus, dass wir ihn brauchen. Wir brauchen motivierte und unternehmerisch agierende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eine erfolgreiche digitale Transformation. Ohne den Menschen wird der Wandel nicht gelingen. Das ist Herausforderung und Verheißung zugleich.
Dr. Rainer Hillebrand
Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Otto Group, Konzern-Vorstand Konzernstrategie, E-Commerce, Business Intelligence Otto Group
Im Anschluss an eine Offiziersausbildung und dem Studium der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Universität der Bundeswehr promovierte Dr. Hillebrand im Fach Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Nach seinem Einstieg bei OTTO verantwortete Dr. Hillebrand dort unter anderem die Direktionsbereiche Einkauf Hartwaren sowie Verkauf. Im Vorstand der Otto Group übernahm Dr. Hillebrand zunächst die Funktion Verkauf und E-Commerce, zwischenzeitlich die Bereiche Marketing, Werbung und E-Commerce. Er war Sprecher des OTTO-Vorstands sowie Vorstand OTTO Vertrieb, Marketing und E-Commerce. Seit zehn Jahren ist Dr. Hillebrand Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Otto Group und verantwortet die Themen Konzernstrategie, E-Commerce, Business Intelligence und Knowledge Management.