Die größte Herausforderung der Zukunft ist die zunehmende Komplexität der Systeme: das gilt für Wirtschaftssysteme wie für soziale Systeme
Prof. Dr. Wolf Singer, Hirnforscher und Direktor em. am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main im Gespräch mit Jane Uhlig (erschienen in „Das agile Unternehmen – Wie Organisationen sich neu erfinden von Kai Anderson und Jane Uhlig, Campus Verlag)
„Wir sollten sofort beginnen darüber nachzudenken, wie unsere wachstumsorientierte Wirtschaftsgesellschaft umorganisiert werden muss, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir bald nicht mehr auf Kosten von weniger entwickelten Gesellschaften und endlicher Ressourcen wachsen können.“
JANE UHLIG: In der Hirnforschung bahnt sich die größte wissenschaftliche Herausforderung für unsere Gesellschaft des 20. Jahrhunderts an. Dazu interessieren uns die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft und dann, wie wir Menschen diese herbeirufen.
WOLF SINGER: Wenn Sie fragen, welche Veränderung in der Gesellschaft im Augenblick die größte Herausforderung darstellt, dann ist es wohl die zunehmende Komplexität der Systeme, die wir uns geschaffen haben. Das gilt für Wirtschaftssysteme ebenso wie für soziale und ökologische Systeme. Wir Menschen haben die Welt grundlegend verändert. Deshalb nennt man unsere Zeit auch das Anthropozän. Menschen haben Kultur in die Welt gebracht, dadurch dass sie miteinander in Wechselwirkung getreten sind. Sie haben der biologischen die kulturelle Evolution hinzugefügt und dadurch neue Wirklichkeiten erzeugt: die sogenannten sozialen Realitäten. Und diese sind es, die uns jetzt zunehmend Schwierigkeiten bereiten. Durch den Aufbau von Zivilisationen schufen wir hoch komplexe Interaktionsgeflechte, die außerordentlich schwer zu beherrschen sind. Wenn wir uns sorgfältig prüfen, stellen wir fest, dass wir nicht mehr in der Lage sind, diese Systeme zielführend zu entwickeln. Wir versuchen zwar, in deren komplexe Dynamik einzugreifen, wenn sie instabil zu werden droht, aber solche Steuerungsversuche ähneln mehr dem Management akuter Krisen als der Optimierung von Interaktionsarchitekturen, die sich langfristig selbst stabilisieren.
UHLIG: Wie spiegelt sich das Interaktionssystem in Unternehmen wider?
SINGER: Wenn man die Verflechtung der Unternehmen weltweit untersucht, dann stößt man auf hoch komplexe Netzwerke, die ähnliche Merkmale aufweisen wie das Internet oder wie neuronale oder soziale Netzwerke. Solche Systeme haben die Eigenschaft, eine sehr komplexe, nicht-lineare Dynamik zu entwickeln, die über längere Zeitabschnitte hinweg weder kontrollierbar noch prognostizierbar ist. Wenn man in solche Systeme dirigistisch eingreift, reagieren die darauf kurzfristig vielleicht wie gewünscht. Aber die langfristigen Folgen sind im Prinzip nicht voraussehbar. Und deshalb ist es so schwierig, mit den von uns geschaffenen Systemen umzugehen. Man muss versuchen, die Architektur der Systeme so auszulegen, dass sie gegenüber Störungen robust sind, immer wieder ihr Gleichgewicht von alleine finden. Das ist ein evolutionäres Prinzip, die Natur hat uns das vorgemacht.
UHLIG: Das heißt, die Interaktionssysteme, in denen wir uns befinden, sind letztendlich von der Natur und nicht von Menschen geschaffen?
SINGER: Naja, die Natur, die Evolution hat zwar den Menschen hervorgebracht, die Knoten der zukünftigen sozialen Netzwerke. Aber dass einmal sechs oder acht Milliarden solcher Knoten existieren und sich Technologien schaffen würden wie das Internet, die eine enge Koppelung erlauben, – dafür hat uns die biologische Evolution nicht vorbereiten können. Wir haben einfach das jeweils Vorgefundene entsprechend unserer Bedürfnisse optimiert und uns Ressourcen erschlossen, um unsere Existenz und Reproduktion zu sichern. Solange diese neu entstandenen sozialen Systeme überschaubar blieben, solange die miteinander verbundenen Menschen sich persönlich begegnen konnten, war es möglich auf Tugenden wie Vertrauen, Ehrlichkeit und Altruismus zu bauen, um die Systeme stabil zu halten. Wenn solche Systeme jedoch sehr groß werden, wie die jetzt weltweit gekoppelten Systeme, dann greifen solche Regulationsmechanismen nicht mehr.
UHLIG: Sie sprachen von Nächstenliebe und von Empathie. Wovon sprechen wir denn bei der Finanzkrise? Es wird überall von einer Vertrauenskrise gesprochen. Hängt das mit den komplexen Strukturen zusammen?
SINGER: Es hängt damit zusammen, dass die Rückkopplung zwischen den Agenten weitestgehend fehlt. Der Akteur bekommt die Folgen seines Tuns nur sehr indirekt wenn überhaupt zu spüren, es sei denn er verletzt gesellschaftliche Normen in einer Weise, die strafrechtliche Konsequenzen hat. Wenn jemand in einer kleinen Stammesgesellschaft jemand anderen übervorteilt, dann ist das sehr schnell aufzudecken und das unfaire Verhalten wird mit Sanktionen bestraft. In einem großen Konstrukt wie dem verflochtenen Finanzsystem schlägt solches Fehlverhalten, wenn es denn als solches betrachtet würde, nur mit großer Verzögerung auf den Täter zurück. Und auch dann wird nicht das Individuum sondern meist eine anonyme Institution zur Rechenschaft gezogen.
UHLIG: Wie beispielsweise Banken …
SINGER: Also ich stelle mir vor, dass Investmentbanker, die überhöhte Risiken eingehen oder wissentlich anderen schaden, selten persönlich belangt werden. Meist sind das die dahinter stehenden Institution, die dafür geradestehen müssen – so wie es bei der Deutschen Bank der Fall war. Kriminelle Machenschaften mal ausgenommen. Natürlich haben einzelne Menschen das zu verantworten, aber diese werden nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern oft sogar mit Boni belohnt. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum die Versuchung so groß ist, die Kriterien der Fairness dem persönlichen Profitstreben unterzuordnen. Die Geschädigten bleiben ja ihrerseits anonym, weshalb die oben genannten Tugenden als Regulativ nicht greifen können. Manipuliert werden Geldströme. Dass dieses Geld ursprünglich als symbolischer Gegenwert für einen von Menschenhand geschaffenen konkreten Wert steht, der dem Wertschöpfer gehört und deshalb geschützt werden muss, entzieht sich dann meist unserer Wahrnehmung. Hinzu kommt die unüberschaubare Dynamik. Es werden Derivate von Derivaten aufgelegt, es entstehen immer komplexere Abhängigkeiten, die analytisch nicht mehr durchdringbar sind … und am Ende ist das entstandene Geflecht nicht mehr durch ein real erwirtschaftetes Sozialprodukt oder Vermögen gedeckt. Und weil man sich auf diese Weise offenbar kurzfristig sehr gut bereichern kann, wird das flächendeckend versucht und führt natürlich zu Systemzusammenbrüchen.
UHLIG: Haben Sie eine Vorstellung, wie sich Unternehmen in Bezug auf diese Entwicklung in der Zukunft verändern werden?
SINGER: Unsere Erde ist ein geschlossenes System mit begrenzten Ressourcen, und die einzige Möglichkeit Energie zu gewinnen, ist, das Licht unseres Zentralgestirns auszunutzen. Diese elektromagnetische Strahlung ist unsere einzige Energiezufuhr Einen Teil davon hat unser Planet in energiereichen chemischen Verbindungen gespeichert. Diese verwandeln wir jetzt durch Verbrennung in nutzbare Energie. Da wir uns in einem geschlossenen System bewegen, werden wir nicht unbegrenzt wachsen können. Im Augenblick scheint mir das noch zu funktionieren, weil das Gefälle zwischen den hochentwickelten und weniger entwickelten Bereichen dieser Welt noch so groß ist, dass Wachstum durch Angleichung der Lebensstandards erreicht werden kann – vorausgesetzt, wir erschließen genügend erneuerbare Energien und zerstören dabei nicht die vielen anderen Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen. Noch lassen sich neue Märkte erschließen. Aber wenn dieser Prozess einmal abgeschlossen ist, dann kann die Wachstumsphilosophie, die im Augenblick wirtschaftliches Handeln zu beherrschen scheint, so nicht mehr verfolgt werden. Wachstum muss eine andere Konnotation bekommen. Es wird anderer Zielvorgaben bedürfen als Profitmaximierung und Vollbeschäftigung. Wir sollten sofort damit beginnen darüber nachzudenken, wie unsere bislang ,wachstumsorientierte Wirtschaftsgesellschaft umorganisiert werden muss, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir bald nicht mehr auf Kosten von weniger entwickelten Gesellschaften und endlicher Ressourcen werden wachsen können. Das Problem dabei ist, dass wir große Schwierigkeiten damit haben, Maximen für unser Verhalten allein aus der Kenntnis von Zusammenhängen abzuleiten. Solange wir nur wissen aber nicht betroffen sind, ziehen wir die notwendigen Konsequenzen nicht mit der Geschwindigkeit, mit der wir sie ziehen müssten. Sie sehen das bei unserem Versuch, die Erderwärmung einzudämmen. Das ist nun unzweifelhaft ein lebensbedrohliches Problem, aber solange wir nicht selbst existenziell bedroht sind, fällt es uns schwer, aus Erkanntem die notwendigen Verhaltensänderungen abzuleiten. Die biologische Evolution hat uns nicht mit den Verhaltensdispositionen ausgestattet, die wir für solch vorausschauendes Handeln bräuchten. Unsere Zukunft wird entscheidend davon abhängen, ob es uns gelingt, die hierfür notwendige Verantwortlichkeit über kulturelle Techniken in uns und unseren Kindern zu verankern.
UHLIG: Wie sollten sich die Unternehmen dahingehend verändern bzw. agieren?
SINGER: Das ist schwierig für die einzelnen Unternehmen. Der einzelne Unternehmer und der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft wird immer argumentieren: Meine Verantwortung ist die profitable Gestaltung meines Unternehmens, damit ich Arbeitsplätze erhalten, Dividenden ausschütten und meine Aktionäre zufriedenstellen kann. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn sich ein Vorstandsvorsitzender in der Hauptversammlung vor seine Aktionäre stellt und sagt: Wir haben jetzt gründlich darüber nachgedacht. Wir wollen und dürfen nicht mehr wachsen, weil wir nicht mehr hinreichend umweltverträglich sind. Unser Wachstum erfolgt auf Kosten der Lebensqualität von Menschen in unserer Umgebung oder auf Kosten planetarer Ressourcen, die wir schonen wollen. Wir wollen das jetzt beenden und ändern unser Firmenkonzept. Das hat für sie die Konsequenz, dass es keine Dividenden mehr geben wird. Wir werden im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die sich weniger sozial verantwortlich zeigen, auf Dauer verlieren, es ist also nicht gesichert, dass wir so prosperieren können wie geplant. Seid ihr damit einverstanden? Wie würde die Entlastung des Vorstandes ausfallen? Gewiss ist, dass der Vorstand mit Prozessen überzogen würde von Aktionären, die auf Schadenersatz klagen würden, weil ihnen die Aktien unter anderen Prämissen verkauft wurden.
UHLIG: Zurück zur Hirnforschung: Sind Veränderungsprozesse einer Gesellschaft rein biologisch begründet?
SINGER: Natürlich begann alles zunächst mit der biologischen Evolution. Wir Menschen sind biologische Wesen. Aber wir sind auch Kulturwesen, sind Teilhaber einer immateriellen, kulturellen Dimension, die wir uns selbst geschaffen haben. Wir bewegen uns in einer Welt sozialer Realitäten, die sich nicht mehr im biologischen Sprachspiel abbilden lässt. Aber natürlich ist Leben ein biologisches Phänomen. Und damit sind natürlich die Gesellschaften, die wir aufgebaut haben, biologische Organismen bzw. Hyperorganismen. Genau wie Bienenstaaten und Ameisenstaaten, nur dass diese sehr viel einfacher strukturiert sind. Wir haben Begriffe in die Welt gebracht, die auf die mentale, die geistige Dimension des Menschen verweisen. Wir benennen Phänomene wie Bewusstsein, Empfindungen, Glaubensinhalte, Fairness, Gerechtigkeit, Schuld, Eifersucht und Gier. Das sind alles Phänomene, die ihren Status als wirkmächtige Realitäten erst in menschlichen Gesellschaften erlangt haben. Es sind das Begriffe für Realitäten, die erst im Zusammenwirken von Agenten entstehen oder offenkundig werden, die mit den kognitiven Eigenschaften von Menschen ausgestattet sind.
UHLIG: Warum betrachten wir Menschen uns frei in unseren Handlungen, obwohl diese neurobiologische Willensfreiheit nicht existiert?
SINGER: Weil wir über die Fülle der Beweggründe, die jeweils dafür verantwortlich sind, dass wir etwas tun oder lassen, nur sehr begrenzt Auskunft geben können. Wir nehmen die Prozesse, die in unserem Gehirn ablaufen, nicht wahr. Wir können uns nicht vorstellen, auf welchen neuronalen Prozessen unsere Entscheidungen basieren. Wenn wir über Introspektion und Befragung des Gegenüber versuchen herauszufinden, was in unserem Gehirn vor sich geht, kommen wir zu ganz anderen Schlussfolgerungen als wenn wir mit neurobiologischen Analysemethoden die neuronalen Prozesse direkt untersuchen. Sie und ich, wir haben vielleicht den Eindruck, dass es in unserem Kopf eine Zentrale gibt, wo das Ich zu verorten ist, wo interpretiert, bewertet, entschieden und geplant wird. Wenn man in das System hineinschaut, dann sieht man, dass dieser Ort nicht vorhanden ist, sondern dass es sich um ein sehr distributives, sich selbst organisierendes System handelt. Die Ähnlichkeit mit sich selbst entwickelnden Wirtschafts- und Sozialsystemen, die auch nicht zentral gelenkt werden, sondern sich weitestgehend selbst organisieren, ist unverkennbar. Im Gehirn konstituieren sich Entscheidungen auf der Basis kompetitiver Prozesse, die sowohl auf unbewussten Abwägungen wie auch auf bewusst verhandelten Argumenten basieren. Aus dem Gemisch dieser beiden Prozesse, von denen sich der eine der bewussten Reflektion entzieht, entstehen dann Entscheidungen. Daher ist es oft so, dass rationale Begründungen für eine bestimmte Entscheidung nicht mit den „wahren“ Beweggründen übereinstimmen. Dies lässt sich in Experimenten überzeugend zeigen. Der Mensch hat ein ausgeprägtes Bedürfnis für alles, was er tut, Erklärungen zu finden. Befolgt ein Proband eine Anweisung des Versuchsleiters, die er, weil abgelenkt, nicht bewusst wahrgenommen hat, wird er, wenn befragt, eine Erklärung abgeben, die mit den tatsächlichen Beweggründen nicht übereinstimmt. Der Proband wird jedoch davon überzeugt sein, dass seine Erklärung zutreffend ist.
UHLIG: Das bedeutet, dass wir Menschen auch in der Führung eines Unternehmens nicht frei handeln?
SINGER: Man muss sich sehr genau überlegen, was man mit „frei“ meint. Wenn Neurobiologen über Freiheit sprechen, dann meinen sie eigentlich nur den Moment des Fallens einer Entscheidung. Eine bestimmte Entscheidung hat ihre Ursachen, im aktuellen neuronalen Geschehen, und dies folgt den Naturgesetzen, es folgt den Kausalgesetzen. Es war also im gegebenen Augenblick keine andere Entscheidung möglich. Die getroffene Entscheidung war die in dem Moment einzig mögliche. Und jetzt kann man nach den Ursachen fragen, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Das ist natürlich zum einen die individuelle Ausprägung der Architektur des Gehirns. Die Programme, welche die Abläufe im Gehirn festlegen sind in seiner funktionellen Architektur verankert und diese wiederum ist durch eine Fülle von Faktoren bestimmt. Da sind die genetisch vorgegebenen Anlagen, die epigenetischen Überformungen durch frühkindliche Prägung, Erziehung und Erfahrungen. All diese Variablen nehmen Einfluss auf die Verschaltungsarchitektur des Gehirns, wodurch sich seine individuelle Einzigartigkeit begründet. Hinzu kommen die aktuellen Einflussfaktoren, also beispielsweise ein soeben gehörtes Argument, ein Hunger- oder Schmerzgefühl. Also all das, was auf die Dynamik des Gehirns unmittelbar Einfluss nimmt und die unmittelbar bevorstehende Entscheidung mit determiniert. Und dann fällt die Entscheidung, die in diesem Moment die einzig mögliche war. Da das Gehirn aber ein nicht-lineares System ist, und kein Uhrwerk lässt sich nicht voraussagen, wie es sich das nächste mal entscheiden wird. Auch wenn sich im Nachhinein eine Entscheidung als die einzig mögliche erweist bleibt die Zukunft offen.
UHLIG: Könnte man sagen, dass ein erfolgreicher Unternehmer zum Beispiel die und die Hirnstruktur hat – gibt es so etwas?
SINGER: Nein. Dazu müssten wir zunächst wissen, was wir mit erfolgreich meinen und das scheint mir alles andere als gewiss, zumal Erfolg ja kein invariantes Merkmal einer Person ist. Zudem wissen wir viel zu wenig über die Zusammenhänge zwischen Mikroverschaltungen, globaler Architektur und den daraus folgenden kognitiven Leistungen eines Gehirns. Uns fehlen die Messverfahren, um die komplexen Wechselwirkungen in individuellen menschlichen Gehirnen mit der notwendigen Präzision zu erfassen. Die Auflösung nicht invasiver Messverfahren, also der funktionellen Kernspintomographie oder Magnetresonanztomographie, ist viel zu grob, um diese Feinheiten erfassen zu können. CEOs zu scannen, erscheint mir wenig sinnvoll. Zumal wir gar nicht wissen, glaube ich, was ein guter CEO wirklich können muss.
UHLIG: Was meinen Sie denn, was muss ein guter CEO können?
SINGER: Ich glaube nicht, dass sich das generell beantworten lässt. Das wird sehr davon abhängen, welche Organisation sie/er in welcher Phase ihrer Entwicklung lenken muss. Da die Dynamik komplexer Wirtschaftssysteme rational nicht fassbar und analysierbar sein wird, trägt wahrscheinlich am weitesten das, was man allgemein als Erfahrung bezeichnet. Dies äußert sich dann in Intuitionen, die nur schwer zu begründen sind. Wer lenken soll, muss ferner die Fähigkeit besitzen, zu überzeugen und Solidarität zu erzeugen. Das gilt vor allem dann, wenn es darum geht, eine Gefolgschaft für rational nur schwer begründbare Intuitionen hinter sich zu versammeln. Vielleicht spielt auch Self-fullfilling-Prophecy eine Rolle. Sie merken, mir ist das Thema zu komplex. Außerdem muss man meines Erachtens zwei Arten von Erfolg betrachten – den Erfolg, den jemand persönlich hat und den Erfolg, den das Handeln für die Gemeinschaft haben wird. Das muss ja nicht deckungsgleich sein.
UHLIG: Wir kommen noch mal zum freien Willen und zur Neurobiologie. Wie sind denn jetzt Ihre Beobachtungen, wie geht die Gesellschaft damit um, dass unser Handeln letzten Endes neurobiologisch bestimmt ist?
SINGER: Das irritiert Menschen, die von einem ontologischen Dualismus ausgehen und der Meinung sind, dass es einerseits eine materielle Welt gibt, in der die Hirnprozesse verortet sind und andererseits eine davon unabhängige geistige Dimension, in der mentale Prozesse stattfinden, die frei und ungebunden walten, aber auf Hirnprozesse Einfluss nehmen können, um diese zu Aktionen zu veranlassen. Menschen, die ohnehin davon ausgehen, dass alle kognitiven Leistungen auf Hirnprozessen beruhen, reagieren nachdenklich. Sie fragen: Wenn das, was ich entscheide und tue, einer gewissen Zwangsläufigkeit gehorcht, kann ich dann für das, was ich getan habe, zur Verantwortung gezogen werden? Kann ich dann überhaupt an etwas schuld sein? Und da ist die Antwort: Natürlich ist man verantwortlich für das was man tut, denn man hat es ja verursacht. Die Tat wird dem zugeschrieben, der im Sinne der Rechtssprechung schuld an ihr ist. Dann stellt sich die Frage nach den Umständen. Kommt man zu dem Schluss, dass unter den gegebenen Bedingungen jeder mit großer Wahrscheinlichkeit so gehandelt hätte, dann werden meistens mildernde Umstände gewährt. Kommt man aber zu dem Schluss, dass der Täter mit seiner Verhaltensdisposition weit ab von der Norm liegt und für die Gemeinschaft völlig Unerträgliches getan hat dann wird hart sanktioniert. Es geht nicht um die Beurteilung einer subjektiven Schuld. Die Stärke der Sanktion bemisst sich nicht an der subjektiven Schuld. Stellen Sie sich vor, Sie fahren bei Rot über die Kreuzung und es passiert nichts, aber Sie werden fotografiert. Dann bekommen Sie ein paar Punkte und eine Geldstrafe. Verursachen Sie aber mit der gleichen Übertretung, also mit der gleichen subjektiven Schuld, einen Unfall mit Todesfolge, dann kann es passieren, dass Sie ins Gefängnis kommen, obwohl Ihre subjektive Übertretung in beiden Fällen die Gleiche ist. Es wird also auch die Schwere der Tatfolgen mit bewertet. Ein schwieriges Problem ergibt sich aus der Begrenztheit unserer Diagnoseverfahren. Wenn wir bei jemandem, der etwas Schreckliches tut, einen Hirntumor finden, der uns als Ursache für das Fehlen von Kontrollfunktionen plausibel erscheint, dann wird man mildernde Umstände gelten lassen. Findet man nichts, wird die Tat hart bestraft. Nichts zu finden bedeutet aber keineswegs, ,dass die Hirnfunktionen alle in Ordnung sind. Im Gegenteil, irgend eine Abnormalität ist wahrscheinlich. Es kann irgend etwas in der Verschaltung nicht in Ordnung sein, was genetische oder epigenetische Gründe haben kann. Solche Fehlverschaltungen lassen sich mit verfügbaren Methoden jedoch noch nicht nachweisen. Hängt demnach die Bemessung des Strafmasses von der Güte neurobiologischer Diagnoseverfahren ab? Eine beängstigende Frage.
UHLIG: Sie sagten, wir werden in Zukunft Probleme bekommen, wenn die Welt komplexer wird. Das heißt, Unternehmen werden immer größer, Konzerne entwickeln sich immer weiter, und die komplexen Systeme werden immer stärker. Das heißt, dass all dies eigentlich nicht so gut für die Entwicklung der Gesellschaft ist. Wie müssten die Systeme der Zukunft aussehen, damit sie für die Gesellschaft einen Nutzen darstellen?
SINGER: Das Wichtigste ist, dass die Systeme leidlich stabil bleiben. Man muss dafür sorgen, dass diese komplexen Systeme eine Architektur aufweisen, die sie in die Lage versetzt, sich selbst zu stabilisieren und zu reparieren, wie das die Evolution meisterhaft vormacht. Organismen sind hoch vernetzte, extrem komplexe Systeme, aber sie sind fehlertolerant und resilient gegen störende Einflüsse. Das sieht man an der Funktionsweise des Gehirns. Selbst große Läsionen können nach einiger Zeit vom System kompensiert werden. Man muss also herausfinden, welche Architekturen besonders resilient gegenüber Störungen und Instabilitäten sind. Ich fürchte nur, dass wir im Augenblick noch nicht das Wissen haben, solche Strukturen wirklich vollkommen zu durchschauen. Man kann versuchen, Anregungen zu bekommen, zum Beispiel bei der Analyse von Gehirnen oder Bienen- und Ameisenstaaten. Hier handelt es sich um hoch vernetzte Systeme, die erstaunlich stabil sind, eben weil sie von der Evolution darauf hin optimiert worden sind, sich selbst zu stabilisieren und zu heilen, wenn sie gestört werden. Einige Kriterien kennen wir. Eines ist die verlässliche und unverfälschte Dispersion von Information. Bienen lügen nicht. Wenn Bienen die besten Futterquellen verheimlichten und das Volk täuschten, um sich selbst zu bereichern, dann würde das Gemeinwesen sofort zusammenbrechen. Auch sind Bienen selbst als Volk nicht raffgierig. Der Bienenstaat arbeitet insgesamt daran, so viel Futter anzusammeln, um den nächsten Winter verlässlich überleben zu können, aber nicht mehr. All das sind genetisch verankerte Verhaltensroutinen. Wir Menschen sind halt leider viel pluripotenter und janusgesichtiger. Wir können ehrlich sein aber auch virtuos lügen. Deshalb müssen wir Sytemarchitekturen schaffen, die ersteres belohnen und letzteres unattraktiv machen. Unsere normativen Regelwerke tragen dazu bei, aber die Systeme selbst unterstützen oft Gegenteiliges.
UHLIG: Das heißt, wir haben deshalb immer wieder Krisen, weil wir – Teile der Gesellschaft – einfach nicht über die sozialen Kompetenzen verfügen, weil geschwindelt wird, weil raffgierig gehandelt und nicht geteilt wird…
SINGER: Ja, das führt natürlich dazu. Teilen wird nicht mehr belohnt, obwohl es angeblich glücklicher macht.
UHLIG: Wir sprechen ja heute auch von einer Ausnutzgesellschaft. Jeder versucht zu nehmen. Eine Leistung auch nicht mehr entsprechend zu bezahlen…
SINGER: Wenn als Glücksindikator vorwiegend materieller Reichtum gesehen wird, dann führt das mitunter zu wenig befriedigenden Systemarchitekturen. Natürlich braucht es ein gewisses materielles Polster, um komfortabel leben zu können. Aber da gibt es einen Deckelungseffekt. Jenseits eines bestimmten Komfortniveaus wird das Glück nicht größer, sondern es kann allenfalls abnehmen. Weil man ständig bemüht ist, den Standard zu halten und das, was man hat zu verwalten. Erhebungen legen nahe , dass, in unseren Breiten die Zufriedenheit mit Jahreseinkommen bis zu 100.000 Euro wächst, weil man sich dann Sicherheit, Freiheit und etwas Luxus erkaufen kann. Aber jenseits dieser Grenze trägt die Anhäufung materieller Güter offenbar nicht mehr so viel zum persönlichen Glück bei – es sei denn man teilt, gibt weiter und hilft damit anderen
UHLIG: Wie stellen Sie sich das System der Zukunft vor? Muss es noch komplexer werden? Oder spielt vielleicht, die Familie eine größere Rolle … so wie früher?
SINGER: Hier will ich keine Voraussagen wagen, weil es sich um evolutionäre Prozesse handelt, die im Prinzip nicht prognostizierbar sind. Meine Vermutung wäre, dass sich die Evolution nunmehr vorwiegend auf der Systemebene vollziehen wird, dass sich Systeme ausbilden werden, die sich als stabiler erweisen als andere und dann überleben werden, während die anderen zugrunde gehen. Und das wird ein leidvoller Weg sein, weil dieser Wettbewerb der Systeme, und das denke ich erleben wir jetzt in dramatischer Weise, meistens blutig ausgetragen wird. Aber auch ein unblutiger Systemkollaps ist immer ein sehr schmerzliches Ereignis. Wahrscheinlich ist, dass ganz radikale Systemänderungen, wie sie der islamische Staat und andere fundamentalistische Strömungen propagieren, eine geringe Überlebungschance haben. Solch totalitäre Systeme sind in der Regel immer instabil, weil ihnen die Pluralität und Komplexität fehlt, die ihnen die notwendige Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Bedingungen verleiht. In der biologischen Evolution kämen solche radikalen Systemveränderungen tödlichen Mutationen gleich.. Also werden sich die komplexeren Systeme hoffentlich durchsetzen. Wie diese genau aussehen werden, das wird sich zeigen, falls wir überleben.
UHLIG: Haben Sie einen letzten Rat oder Tipp für einen Unternehmer, der ein Unternehmen führt in Sachen Komplexität oder in Sachen Handeln?
SINGER: Ich denke, wir sollten uns alle darüber im Klaren sein, dass wir die Systeme, in denen wir zurzeit agieren, rational nicht mehr durchdringen und sogar intuitiv nur sehr unvollkommen erfassen können. Die biologische Evolution hat uns nicht dafür vorbereitet, uns hoch nichtlineare Dynamik vorstellen zu können. Auch sollten wir davon ausgehen, dass komplexe nicht-lineare Systeme nicht wirklich gesteuert werden können, weil ihre Reaktionen auf isolierte Eingriffe langfristig nicht prognostizierbar sind, selbst bei genauester Kenntnis der Systemkomponenten und der Art ihrer Verflechtung. Aus diesem Grund sollten wir demütig sein, wohlwissend, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist zu irren.(Die Fragen stellte Jane Uhlig)
Dieses Interview darf in ihrem Medium mit der Nennung der Quelle: „Das agile Unternehmen – Wie Organisationen sich neu erfinden von Kai Anderson und Jane Uhlig, Campus Verlag
Foto: Laslo Dani