„Der digitale Wandel ist ein sehr dynamisch verlaufender Prozess, in dem es nicht darum geht, wo man steht, sondern wie schnell man sich weiter bewegen wird“, so Rainer Hillebrand, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Otto Group, im Gespräch mit den Buchautoren Kai Anderson und Jane Uhlig für „Das agile Unternehmen – Wie Organisationen sich neu erfinden“ (Campus Verlag).
ANDERSON: Die Otto Group, das kann man wohl mit Fug und Recht sagen, hat die Herausforderungen der Transformation zur Digitalisierung nicht nur angenommen, sondern bisher auch recht erfolgreich bewältigt – ganz im Gegensatz zu zahlreichen anderen Unternehmen.
Wann haben Sie eigentlich die Digitalisierung als wirklich als zentrale Herausforderung erkannt? Wir haben gelesen: Sie waren anscheinend der erste Vorstand, der auch für den Bereich E-Commerce des Unternehmens verantwortlich war. Das war schon vor dem Höhepunkt der New-Economy-Blase, wenn ich richtig informiert bin. Wann sind Sie sich dessen bewusst geworden, wie viel Veränderung die Digitalisierung mit sich bringt?
HILLEBRAND: Bereits Ende 1998 hat Michael Otto zu mir gesagt: „Herr Hillebrand, machen Sie den Konzern e-commerce-fähig.“ Zu jener Zeit erschöpften sich meine digitalen Fähigkeiten darauf, dass ich ein wenig programmiert, am Computer gearbeitet und per E-Mail kommuniziert habe – das war’s! Was E-Commerce wirklich genau bedeutet, war uns damals noch nicht ganz klar. Der Auftrag des damaligen Vorstandsvorsitzenden war tatsächlich der Startpunkt, von dem aus wir uns sehr intensiv, mit diesem Thema und seinen Auswirkungen auseinandergesetzt haben. Und je tiefer wir eingestiegen sind, desto klarer wurde uns, dass die Digitalisierung eine unglaubliche und nachhaltige Auswirkung auf unser Geschäftsmodell haben wird. Schließlich ist E-Commerce ja nichts anderes als verkaufen über Distanz, jedoch nicht mehr über einen klassischen Katalog, den wir viele Jahre in der Vergangenheit extrem erfolgreich betrieben haben, sondern auf elektronischem Wege mit allen damit verbundenen neuen Herausforderungen.
ANDERSON: Wir würden gleich noch ein bisschen auf die Hebel eingehen. Wenn Sie sich den aktuellen Zustand der Otto Gruppe mit Blick auf den globalen Wettbewerb anschauen, wo sehen Sie sich dann? Dass Sie in Deutschland und Europa ganz vorne mit dabei sind, ist klar. Uns interessiert eher, wo Sie, sich mit Blick auf die Digitalisierung im globalen Maßstab sehen?
HILLEBRAND: Der digitale Wandel ist ein sehr dynamisch verlaufender Prozess, in dem es nicht darum geht, wo man steht, sondern wie schnell man sich weiter bewegen wird. In der Vergangenheit ist es uns sicherlich gut gelungen, die Entwicklungen rechtzeitig erkannt und neue Themen gesetzt zu haben. Nun hat sich das Wettbewerbsumfeld, insbesondere im Handel, gravierend verändert. Wenn Sie sich mal anschauen, welche Player noch vor vielen Jahren unsere Hauptwettbewerber waren und welche heute den Markt prägen, dann stellen Sie da erhebliche Veränderungen fest. Traditionelle Kaufhauskonzerne wie Karstadt und Kaufhof waren in der Vergangenheit unsere Hauptwettbewerber, wenn ich den klassischen Katalogversand Neckermann und Quelle einmal außen vorlasse. Heute heißen die Global Player im Markt Amazon, Ebay & Co. Und noch eins darf man nicht vergessen: Wir sehen eben auch relativ viele Gatekeeper mit Zugang zum Kunden wie Apple, Google oder Facebook, um nur die Größten zu nennen. Aus ihrer starken Kundenbeziehungsposition heraus können diese Unternehmen den Zugang Ihrer Kunden zu anderen Händlern schon sehr stark kontrollieren .Ein ganz offensichtliches Beispiel war für mich, als Apple vor einiger Zeit eine neue IOS-Version einführte. Plötzlich war Google Maps nicht mehr auf Apples Smartphone vorinstalliert, sondern ein eigenes Produkt. Diese Gatekeeper schaffen also eine völlig andere Wettbewerbsdimension, denn sie entscheiden, was auf meinen Geräten prioritär stattfindet. Daraus ergeben sich ganz andere Herausforderungen, denen sich Händler wie wir stellen müssen. Die Frage lautet: Wie komme ich – unter Umgehung der Gatekeeper – an meinen Kunden in Zukunft eigentlich noch heran?
ANDERSON: Und diese Frage determiniert ja in einem gehörigen Maß Ihre Strategie. Das heißt, mit dieser immanenten Dynamik verkürzen sich auch die Zyklen Ihrer Strategieentwicklung, oder?
HILLEBRAND: Definitiv. Strategieentwicklung im Sinne von „Ich mache eine Fünfjahresstrategie und schaue mir nach vier Jahren an, wo ich stehe.“, die können Sie mittlerweile vergessen. Wir haben zwar eine langfristige Strategie, jedoch sind die Zyklen, in denen wir sie überprüfen, deutlich kürzer geworden. So können wir sie ständig justieren und optimieren. Ein konkretes Beispiel: Vor circa fünf Jahren haben wir eine Vision namens Futurama entwickelt. Darin haben wir einen umfassenden Ausblick auf die kommenden 10, 15 Jahre vorgenommen und uns gefragt: Wie wird dann der Handel aussehen? Wer sind dann die zentralen Player? Auf welchen Layern spielt wer? Wer sind dann unsere Wettbewerber? Und welche Anteile der Wertschöpfungskette bilden sie eigentlich ab? Aus dem so entstandenen Bild vom Handel in 2020 haben wir Rückschlüsse auf unsere heutige Rolle im Markt geschlossen. Das haben wir dann strategisch und operativ umgesetzt und überprüfen nun alle sechs Monate, ob wir noch on track oder nicht. Ein weiteres Thema ist der extrem schnelle technologische Wandel. Vor fünf, sechs Jahren, als das Thema Mobile für den E-Commerce noch keine große Rolle spielte, haben wir bereits seine Bedeutung erkannt und das Projekt „Mobile First“ gestartet. Damals hielt man unsere internen Prognosen zur Entwicklung des Mobilemarktes für ziemlich kühn. Heute sind sie bei weitem übertroffen. Das heißt: Wir passen unsere Strategie an diese Entwicklung an. Und die Dynamik nimmt weiter zu, wie das Beispiel Business Intelligence zeigt. Der zunehmende Einfluss von Daten aufs Geschäft ist atemberaubend..
ANDERSON: Sie sprachen von der Vision, die Sie entwickelt haben. Wie wichtig ist so eine Vision, um die Organisation zu bewegen?
HILLEBRAND: Die Vision ist deshalb extrem wichtig, weil sie unserer ganzen Gruppe – vom normalen Mitarbeiter bis zum Gesellschafter – eine übergeordnete Idee von unseren Unternehmenszielen vermittelt. So hat jeder im Arbeitsalltag das große Ganze im Hinterkopf. Das gibt eine wichtige Orientierung auf dem Weg zum Ziel. Unsere Aufgabe im Management ist es, den Mitarbeitern zu vertrauen und ihnen mehr Freiräume zu geben, ihre Möglichkeiten zur Erreichung der übergeordneten Ziele auszuschöpfen.
UHLIG: Welche Rolle spielt Vertrauen dabei? Wie motivieren Sie Ihre Mitarbeiter?
HILLEBRAND: Es gibt zwei Richtungen des Vertrauens. Die eine Seite schenkt das Vertrauen, das sich die andere Seite verdient hat. Da hängt auch viel vom Gespür für die eigenen Mitarbeiter ab. Wie engagiert und fokussiert wird an den Zielen gearbeitet? Wird auch mal eine Schippe draufgelegt? Werden Ziele erreicht oder übererfüllt? All das schafft ein gewisses Grundvertrauen – und das bringt alle weiter.
ANDERSON: Wir würden gleich noch mal auf die Eigenschaften der Mitarbeiter kommen. Mit Blick auf die Organisation. Zu Ihrer Gruppe gehören ja, wenn ich richtig gezählt habe, 123 eigenständige Gesellschaften. Wie wird das organisiert? Also wie viel Autonomie besteht da und wo ist die gemeinsame Basis?
HILLEBRAND: In unserem Unternehmen herrscht eine eher dezentrale Denkhaltung. Wir verlagern extrem viel Verantwortung in die Geschäftsführung unserer Gesellschaften. Zudem haben wir eine überschaubare Anzahl an zentralen Funktionen und Aufgaben – nach dem Grundsatz „So viel Freiheit wie möglich, so viel Zentralität wie nötig.“ Bei bestimmten Themen macht Zentralität aber durchaus Sinn, . zum Beispiel bei unserem konzernweiten Logistikverbund. Damit generieren wir ganz andere Skaleneffekte. Sie erzeugen Fixkostendegressionseffekte und können mit besseren Kostenstrukturen im Markt agieren. Aber die Kraft unserer Gruppe, die entfaltet sich in aller Regel in den Gesellschaften, in den Märkten. Die Kollegen vor Ort kennen ihre Kunden am besten und darauf kommt es am Ende des Tages an. Was hat unser Kunde davon? Diese Frage ist das zentrale Thema … und das kann kein Headquarter für alle Konzerngesellschaften zentral beantworten. Eine Zentrale kann nur die Voraussetzungen für den operativen Erfolg schaffen.
ANDERSON: Schlagwort der digitalen Ökonomie ist Coopetition, das heißt das Zusammenspiel über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus. Mal miteinander konkurrieren und, mal kooperieren – das praktizieren Sie doch auch, oder?
HILLEBRAND: Auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Beispiel Hermes: Die liefern auch Pakete für unseren Wettbewerber Amazon. Mit Blue Yonder haben wir ein Beteiligungsunternehmen im Markt, das für viele Wettbewerber Predictive Analytic-Algorithmen entwickeln. Wir arbeiten mit Wettbewerbern dort zusammen, wo es sinnvoll ist.
ANDERSON: Von außen betrachtet, kommt das dem Bild einer Netzwerkorganisation sehr nahe. Wie behalten Sie hier die Übersicht? Die strategischen Kooperationen werden noch zentral gesteuert oder zumindest gemonitored, mal Monitor, oder?
HILLEBRAND: Bevor wir mit bedeutenden direkten Wettbewerbern in eine Geschäftsbeziehung treten, gibt es natürlich im Vorstand hierüber eine Entscheidung. Innerhalb dieses Rahmens können die Gesellschaften agieren., Und das Monitoring erfolgt in Form transparenter Kommunikation über diese Zusammenarbeit. Das Netzwerk der Otto-Gruppe wird von einem Direktionsbereich organisiert, der bis zu 220 Veranstaltungen unterschiedlicher Größenordnungen im Jahr durchführt – von Best-Practice-Clubs bis hin zu Konferenzen, wo alle Vertriebs- und Marketinggeschäftsführer der Otto-Gruppe zusammenkommen, das sogenannte Konzernmarketing-Board. So schaffen wir eine Kultur des konstruktiven Austauschs, in der wir Niederlagen ebenso sharen wie Golden Nuggets. Diese Art von Netzwerkökonomie wird bei uns intensiv gelebt – live und digital, in dem wir zentral die formale Struktur und die Collaboration-Tools anbieten.
ANDERSON: Und die Kultur? Würden Sie sagen, dass so etwas wie eine Fehlerkultur zumindest Teil oder kulturelles Element der Otto-Group ist?
HILLEBRAND: Schwierige Frage. Grundsätzlich ist eine Fehlerkultur wichtig. Aber hier unterscheide ich ganz klar zwischen Routine- und Innovationsprozessen. Das ist wie bei einer Herzoperation. Das ist heute ein Routineprozess, bei dem keine Fehler passieren dürfen. Ganz anders war das bei der Pionierleistung Herzverpflanzung von Prof. Bernard.- In Startphasen einer neuen Ära gehören Fehler durchaus zum Lernprozess.
UHLIG: Nun zu Ihrer Geschichte: Sie sind ja vor 25 Jahren bei Otto eingestiegen. Eine richtige lange Zeit. Das heißt, Sie kennen das Unternehmen und haben sämtliche Veränderungen durchlebt. Welche war die spannendste und warum?
HILLEBRAND: Was mich schon als Schüler extrem fasziniert hat, war die industrielle Revolution. Irre, wie plötzlich innerhalb eines sehr überschaubaren Zeitraumes nichts mehr so war wie zuvor. Die Menschen mussten sich komplett umstellen, weil sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen gravierend verändert haben. Jetzt befinden wir uns mitten in der digitalen Revolution und ich erlebe extrem viele Parallelen. Das Faszinierende daran ist die unglaubliche Geschwindigkeit der Veränderung und dass ich sie in einem begrenzten Bereich mitgestalten darf. Ich weiß noch: Meinen Termin für das Bewerbungsgespräch bei Otto bekam ich per Telegramm. Wenn ich mich mit meinem heute 18-jährigen Sohn über Telegramme unterhalte, guckt er mich an und denkt, ich habe irgendwas Neues erfunden. Und weshalb bin ich ein Vierteljahrhundert in diesem Unternehmen? Wahrscheinlich weil ich in diesem Zeitraum permanent neue Aufgaben bekommen habe und mich in unterschiedlichste Bereiche einbringen konnte – vom Einkauf über Vertrieb bis Marketing. Immer dicht am Markt dran sein, das war und ist mir wichtig! Natürlich spielen auch Otto als familiengeführtes Unternehmen und Michael Otto als weltoffene und innovationsfreudige Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Wussten Sie eigentlich, dass wir uns mit dem topaktuellen Thema Interaktives Fernsehen schon vor 25 Jahren beschäftigt haben? Es hat sich immer noch nicht richtig durchgesetzt, aber wir haben unsere Erfahrungen damit gemacht – und können dieses Wissen eines Tages vielleicht nutzen.
ANDERSON: Geschwindigkeit ist das eine, moderne Arbeitsform das andere. Als erste Säule Ihrer Geschäftsstrategie habe ich das Thema Transformation gesehen – und agile Arbeitsformen als Teil davon. Helfen agile Arbeitsformen, Trends schneller zu erkennen und sich darauf einzustellen? Wie sind Ihre Erfahrungen?
HILLEBRAND: Ob agile Arbeitsformen helfen, Trends schneller zu erkennen, weiß ich gar nicht. Wir arbeiten einmal im Jahr mit einem sogenannten Innovationsradar. Das erstellen rund zehn Spezialisten, die sämtliche aktuellen Studien und Technologien screenen und in ein Radarsystem mit zwei Dimensionen einordnen: Marktreife und Relevanz für die Otto-Gruppe. So selektieren wir die Themen, die von besonderem Interesse für uns sind und zu denen wir dann Projekt-Piloten aufsetzen.. Agile Vorgehensweisen helfen aber im normalen Arbeitsprozess extrem stark, weil wir aufgrund der hohen Veränderungsgeschwindigkeit nicht mehr mit langfristigen Zielhorizonten arbeiten können
Aus der Softwareentwicklung entlehnt, arbeiten wir in wesentlich kürzeren Zeitboxen und formulieren nur noch eine grobe Vorstellung davon, wo wir hinwollen. Und das ist meines Erachtens auch die Herangehensweise, die man braucht: Immer wieder überprüfen, ob man noch on Track ist oder ob es mittlerweile neue Entwicklungen gibt, die zu Veränderungen führen.
ANDERSON: Heißt das, Konzernprojekte mit einer Laufzeit drei, vier Jahren gibt es in der Form nicht mehr?
HILLEBRAND: Das lässt sich pauschal so nicht sagen. Denken Sie nur an Investitionen in Brick and mortar wie zum Beispiel ein neues Lager, dort gibt es nach wie vor solche Horizonte. Auch strategische Unternehmensprojekte können durchaus einen längeren Horizont haben, aber auch hier gibt wesentlich kürzere iterative Schleifen im Prozess.
UHLIG: Ein Beispiel?
HILLEBRAND: Nehmen sie den Umbau von otto.de in eine der modernsten E-Commerce-Plattformen mit dem Projektnamen Lothse. Das wurde mit SCRUM-Methodik entwickelt. Der Auftrag war, eine State of-the-Art-Plattform für E-Commerce zu entwickeln, die offene Schnittstellen hat, wesentlich flexibler und auch in der Lage ist, Personalisierung und entsprechende Daten-Feeds zu bearbeiten. Dieser Auftrag wurde erfüllt. Und das, was wir dort programmiert haben, sah schon ganz anders aus als man sich das bei Projektbeginn hätte vorstellen können. Deshalb: Ja, es gibt auch länger laufende Projekte, aber die Herangehensweise hat sich geändert.
ANDERSON: Und im Ergebnis bringt das eine höhere Aktualität?
HILLEBRAND: Eine deutlich höhere!. Und eines kommt hinzu: Man ist nie fertig. Deshalb werde ich eher nervös, wenn die Otto Group von Marktbeobachtern gelobt wird, weil wir uns den Herausforderungen stellen und das Thema der Digitalisierung bewältigen. Ich sage: Nein, wir sind noch nicht fertig, weil der digitale Wandel einem Marathon gleicht, bei dem wir noch lange nicht angekommen sind und vielleicht nie ankommen, weil das Ziel ein Moving Target ist Aber wir laufen mit der Otto Group in der Spitzengruppe des Hauptfeldes. Und es bleibt spannend. Denken Sie nur an die Entwicklung des Smartphones vor sieben Jahren bis heute. Wer hätte voraussagen können, wie diese Generation von Devices das Leben verändert? Deshalb hüte ich mich vor vermeintlich sicheren Prognosen. Ich kann von Dingen überzeugt sein und ich kann es analytisch begründen. Muss das dann aber richtig sein? Wait and see.
ANDERSON: Ist die Einstellung oder die Erkenntnis, dass es eigentlich keinen Endzustand gibt, ein Erfolgsfaktor für Veränderungsfähigkeit?
HILLEBRAND: Ich glaube, ein Erfolgsfaktor für Veränderungsfähigkeit ist es, immer hungrig zu bleiben nach der besten Lösung. Auch Kunden wandeln sich permanent. Ihre Loyalität zu Anbietern hat rapide abgenommen. In der ganz alten Katalogwelt war alles noch überschaubar. Heute ist der Wettbewerb nur einen Mausklick entfernt. Angebote, Designs, Preise, technische Daten – alles ist komplett transparent.
UHLIG: Es gibt Ihre Strategien und es gibt die Kunden. Wie Sie sagten, ändert sich deren Einkaufsverhalten permanent. Ich denke, dass wir schneller werden und dass wir auch riesige Potenziale haben, um unsere Gehirne zu verändern. Aber gehen Sie davon aus, dass sich die Bedürfnisstruktur der Kunden irgendwann einmal total verändert?
HILLEBRAND: Ich würde nie Nie sagen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wir tracken das Verhalten unserer Kunden laufend – auch in dem Moment, in dem sie aktiv sind. Wenn ich das jetzt mal in das Ideal der Digitalisierung übertrage, möchte ich als Händler am Frontend die aus Kundensicht beste Empfehlung abgeben – in Echtzeit, personalisiert und algorithmusgesteuert. Und dann müssen sie einfach tracken, was der Kunde eigentlich will. Ebenso wie im analogen Leben. Ich persönlich gehe für mein Business-Outfit zweimal im Jahr zum Modegeschäft Flebbe. Der Mann hat ein ganz gutes Gespür für Mode. Und er hat eine relativ hohe Trefferquote, was meinen Geschmack angeht. Weil er in der Vergangenheit gelernt hat, was mir gefällt und was nicht. Genau das müssen wir für die Kundin digital abbilden. Deshalb versuchen wir, das Bedürfnis des Kunden zu ermitteln. Bedürfnisstrukturen hin oder her: Wir wollen wissen, was der einzelne Kunden will!
UHLIG: Wenn ich von mir ausgehe: Ich bestelle extrem viel online, weil ich damit Zeit spare, und gehe selten in der Stadt shoppen. Aber mein Userverhalten ist von der Tagesform abhängig. Bin ich jetzt gerade auf dem Wellnesstrend, weiß ich, dass die energiegeladene Farbe Blau mich motiviert. Stimmungssache eben!
HILLEBRAND: Möglicherweise gibt es irgendwann ein Device, das diesen Tagestrend von Ihnen erkennt und Ihnen ein blaues Kleidungsstück anbietet, das sie schon bei der Bestellung neue Energie gibt. Wir tasten uns an dieses Einkaufserlebnis heran.
ANDERSON: Mit Algorithmen.
HILLEBRAND: Ja, klar. Algorithmen brauchen sie allein deswegen, weil Sie so einen Prozess automatisieren müssen. Also Predictive Analytics – ich muss analytisch abgeleitet vorhersagen, was der Kunde wohl als Nächstes will. Und der nächste Entwicklungsschritt ist das ganze Thema Semantik, um die dem Suchbegriff zugrundeliegende Struktur zu erkennen. Wenn Sie bei Google Search den Begriff „Golf“ eingeben, was soll denn Google damit anfangen? Suchen Sie jetzt die Auswirkungen des Klimas durch Veränderungen des Golfstroms, suchen Sie einen neuen Golfball, suchen Sie ein Auto? Vielleicht suchen Sie einen Golfball, aber Google erzählt Ihnen was vom Golf am Mexiko. Das darf eben nicht mehr passieren. Deshalb versuchen wir, dieses semantische Wissen zu bekommenen, zu verstehen, was will der Kunde wirklich sucht.
UHLIG: Manchmal möchte man vielleicht auch nur zur Entspannung einen digitalen Schaufensterbummel machen. Dann klicke ich Seiten an, suche mir etwas aus, aber kaufe es nicht, weil die Vielfalt der Angebote und das ganze Hinundherklicken eher verspannt.
HILLEBRAND: Wir haben ja mit Collins ein Geschäftsmodell, das genau diese hoch individualisierte Suche mit maßgeschneiderten Empfehlung erleichtert.
ANDERSON: Aber Markenbildung bleibt relevant. Da hilft im Zweifelsfall auch kein Algorithmus.
HILLEBRAND: Markenbildung und –pflege ist extrem relevant. Denken Sie an das Zugangs-Layer-Thema. Die Bedürfnistheoretiker sagen: Reason Drought Evoked Set – das heißt, du musst die Hügel in den Köpfen der Verbraucher besetzen. Evoked Set. Da oben muss es rein. Also wenn ich an Modeeinkauf denke, sollte ich auch an OTTO denken. Am besten spontan. Das funktioniert nur mit einem klaren Markenbild. Und dieses Markenbild muss ich aufbauen, pflegen und auffrischen.
ANDERSON: Und wie schätzen Sie die positive Erfahrung durch entsprechenden Service, durch entsprechender Logistik ein?
HILLEBRAND: Das Sortiment und der Preis müssen stimmen, dann können Services ein wichtiger Differenzierungsfaktor sein. Service kostet, aber wir bieten zum Beispiel bei OTTO ganz bewusst einen 24/7-Kontakt persönlich an, weil wir wissen, dass die Leute das an uns extrem schätzen. Dieser persönliche Service ist das Icing On The Cake aus Sicht der Kunden.
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ANDERSON: Und er wirkt identitätsstiftend.
HILLEBRAND: Definitiv. Bei uns reicht Servicequalität bis in die Sprache hinein. Bei Otto haben wir zum Beispiel für eine klare, wiedererkennbare Sprache gesorgt, die am Telefon und auch im Schriftverkehr mit den Kunden gepflegt wird. Für einen Distanzhändler ist diese Kommunikationskultur ein wichtiges Element der Markenpersönlichkeit – wie bei einem Menschen auch.
ANDERSON: Weil wir gerade beim Thema Identität sind: Sie haben starke Einzelmarken. Wie stark ist bei den Einzelmarken das Zugehörigkeitsgefühl zur Otto-Group?
HILLEBRAND: In unserer dezentralen Organisation muss der Fokus der einzelnen Geschäftsführung auf dem eigenen Unternehmen oder der Brand liegen, das ist klar. Aber das geht Hand in Hand mit der Wertschätzung der Zugehörigkeit zur Otto-Gruppe. Unsere Unternehmenskultur spielt dabei ebenso eine Rolle wie unsere finanzielle Stärke und der renommierte Name Otto Group als Türöffner im Businessbereich. Auch die Tatsache, dass wir ein familiendominiertes Unternehmen sind, stiftet Identität. Bei uns weiß man, dass die Familie Otto als Gesellschafter verantwortungsbewusst und im Interesse des Unternehmens agiert. Werte, wie Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit und Sozialkompetenz werden nicht nur von Führungskäften tatsächlich gelebt. Das wird auf jeder Ebene erkannt und gewertschätzt.
UHLIG: Es gibt ja Familienunternehmer, die sehr schwierig zu überzeugen sind. Dass beispielsweise Corporate Social Responsibility Strategien in Ihrem Unternehmen existieren, finde ich gut. War es schwierig, Herrn Otto davon zu überzeugen?
HILLEBRAND: Ihn zu überzeugen, Nachhaltigkeit zu entwickeln? Er hat die anderen überzeugt. Michael Otto hat ja schon in den 80er Jahren begonnen, das Thema Umwelt als weiteres Unternehmensziel zu formulieren und durchzusetzen. Das fing in den 80ern mit Umweltstandards an und das hat er in den 90er Jahren mit hohen Sozialstandards bei der Produktion weiterverfolgt. Das sind Themen, die bei uns schon jahrzehntelang auf der Agenda stehen. Damals wurde Dr. Otto außerhalb des Unternehmens von Einigen als Öko-Spinner bezeichnet, heute folgen andere Unternehmen seinem Vorbild.
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UHLIG: Also ich kenne schon Familienunternehmer, die bei diesem Thema eher bremsen.
HILLEBRAND: Ich weiß nicht, ob Michael Otto das gerne hört, aber er ist ein Mensch, zu dem Sie wirklich aufsehen können. Nicht zuletzt deswegen bin ich so lange in diesem Unternehmen. Er hat ganz klare Vorstellungen von dem, was er will. Und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, das lebt er auf jedem Fall. Er stößt Dinge und Entwicklungen an, ohne daraus gleich eine PR-Aktion zu machen. Themen, an die er glaubt pusht er extrem stark. Und er stärkt einem den Rücken, er schenkt Vertrauen. Wenn neue Ideen nicht so funktionieren wie gedacht, ist das für ihn kein Problem. Was er nicht mag ist, wenn sie Probleme sehen, sie aber nicht ansprechen. Dann kann er fuchsig werden, was ich auch verstehen kann.
UHLIG: Anscheinend hat ja auch der Generationswechsel hervorragend geklappt – im Gegensatz zu so manchem anderen Unternehmen.
HILLEBRAND: Benjamin Otto, der Sohn von Dr. Michael Otto ist jetzt seit zwei Jahren im Unternehmen. Mit Collins hat er ein ganz neues Geschäftsmodell erfolgreich gestartet und ist im Juni dieses Jahres als gestaltender Gesellschafter für die Unternehmensgruppe aktiv. Er wird sich gemeinsam mit dem Vorstand den Innovationsthemen widmen. Auch extern wird dieser Wechsel als gelungen eingeschätzt.
UHLIG: Wenn der Generationswechsel nicht funktioniert, dann ist auch die Agilität eines Familienunternehmens in Frage gestellt. Es gibt viele Beispiele dieser Art.
HILLEBRAND: Das liegt am Charakter von Michael Otto. Er ist ein moderner Mensch in dem Sinne, dass er nicht jeden Trend mitmacht, aber von seinem Management fordert, immer in Bewegung zu bleiben und Veränderungen zu fördern. Bewahrer und Ja-Sager mag er gar nicht. Insofern sind Agilität und Veränderung schon in das Unternehmen eingebaut. Nicht selten hat er seinerzeit als Vorstandsvorsitzender bei der Vorstellung von Rekordergebnissen erfolgreicher Geschäftsjahre schon die nächsten Schritte angemahnt. Ausruhen auf Lorbeeren? No way!
ANDERSON: Herr Piëch bei Volkswagen hat ja – vielleicht weniger geschickt – auch Veränderungen eingefordert. Heißt das, Führungsverhalten setzt sich in der Organisation fort?
HILLEBRAND: Michael Otto sucht die Top-Manager für den Vorstand aus. Und er sucht sich solche Leute aus, die seine Philosophie teilen. So werden Werte auf allen Ebenen aktiv gelebt.
UHLIG: Dr. Hillebrand, ich komme noch einmal auf die Eigenschaften eines Vorstandes zu sprechen. Welche Eigenschaften sind notwendig, um hier als Vorstand eine derart nachhaltige Karriere hinzulegen? Das zeugt ja auch von einer starken Persönlichkeit.
HILLEBRAND: Das wichtigste sind richtig gute Mitarbeiter! In allen Bereichen, in denen ich tätig war, habe ich von Anfang an einen Nachfolger ausgesucht und aufgebaut. Warum? Weil ich erstens schlicht und ergreifend ersetzbar sein möchte im Interesse des Unternehmens. Und weil ich zweitens entbehrlich bin, wenn der nächste Karriereschritt winkt (lacht). Wie gesagt: Richtig gute Leute sind der Schlüssel. Und wir haben mit unserem Gesamtpaket Otto Group auch bei den besten Köpfen gute Karten.
UHLIG: Noch eine letzte Frage: Ihr wichtigster Rat für Veränderungsfähigkeit?
HILLEBRAND: Nie mit dem zufrieden sein, was du tust und dich immer wieder kritisch hinterfragen. Und beim Thema Digitalisierung öfter mal LSD genießen: Lead, Speed, Data!